SF-2012-Von der Materie zum Leben: Chemie? Chemie!
rof. Jean-Marie Lehn
ISIS, Université de Strasbourg
Sowohl unbelebte als auch belebte Materie, sowohl künstliche Materialien als auch lebende Organismen bestehen aus Molekülen und deren übergeordneten Strukturen, die durch die Wechselwirkung der Moleküle ermöglicht werden. Die Chemie schlägt eine Brücke zwischen den Molekülen der unbelebten Materie und den hoch komplexen molekularen Anordnungen und Systemen, die lebende Organismen ausmachen. Molekulare Wechselwirkungen sind die Basis für die hochselektiven Erkennungs-, Reaktions-, Transport- und Regulationsprozesse, denen man in der Biologie begegnet.
In der molekularen Chemie, der Chemie der kovalenten Bindungen, ist eine Vielzahl leistungsfähiger Methoden entwickelt worden, die den Aufbau immer komplexerer Moleküle erlauben. In der so genannten Supramolekularen Chemie wird versucht, übergeordnete molekulare Anordnungen durch die nicht kovalenten Wechselwirkungen der Moleküle untereinander (elektrostatische Wechselwirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen, Van-der-Waals-Kräfte etc.) kontrolliert zu erzeugen. Das Design von künstlichen, abiotischen Rezeptoren, die mit höchstem Wirkungsgrad und höchster Selektivität funktionieren, erfordert den präzisen Umgang mit den energetischen und stereochemischen Besonderheiten der nichtkovalenten Kräfte. Chemie und Informationswissenschaften werden bei dieser „molekularen Programmierung“ verknüpft. Weitere biologische Vorgänge, die dem Chemiker als Ideenquellen dienten, sind z.B. enzymatische Reaktionen, Bildung von Protein-Protein-Komplexen, immunologische Antigen-Antikörper-Assoziationen, Replikation, Translation und Transkription und die Signalauslösung durch Neurotransmitter.
Heute besteht das Arbeitsgebiet der Chemie aus der Gesamtheit aller möglichen molekularen und supramolekularen Spezies, von denen die in der Natur bereits erschaffenen Strukturen und Prozesse nur einen kleinen Teilbereich darstellen. Die anderen warten noch darauf, von Chemikern erschaffen zu werden.
Jean-Marie Lehn ist Nobelpreisträger für Chemie 1987.